Welche Techniken und Prinzipien stehen hinter dem Taijiquan? Die folgenden Zeilen wurden für meine Schüler geschrieben um das Aufnehmen und Leiten der Energien zu verdeutlichen.
Taijiquan Prinzipien
Etwas zum Taiji-Prinzip und das Leiten von Energie
Für meine fortgeschrittenen Schüler als Anregung und zum Gedanken machen auf ihrem Übungsweg:
Anmerkung: Ich habe lange überlegt, diese Seite öffentlich oder nur für meine Schüler in den privaten Bereich zu stellen, bleiben doch mit Sicherheit Fragen zurück oder es besteht die Möglichkeit, den ein oder anderen ungewollt beim Lesen auf eine falsche Fährte zu schicken oder zu verwirren. Wir hatten im Unterricht dieses Thema angesprochen. Und nun soll dieses hiermit etwas weiter verdeutlicht werden, da es mir wichtig ist, ein lebendiges und anwendbares Taijiquan zu unterrichten. Letztlich habe ich entschieden diesen Text in den öffentlichen Bereich zu stellen.
Wenn wir von Taiji-Prinzip reden, so reden wir von Yin und von Yang. Oft hört man zum Thema Taiji-Prinzip: Der Körper muss gelöst sein und entspannt, das Schwere muss nach unten sinken und das Leichte nach oben steigen. Der Körper muss entsprechend der Wai San He, der äußeren drei Harmonien, miteinander verbunden sein und eine Einheit bilden. Entsprechend steht in den alten Texten: Bewegt sich ein Teil, bewegt sich alles, steht ein Teil, so steht der ganze Körper.
All das ist richtig und man könnte noch viel mehr Punkte aufzählen, so zum Beispiel die wichtigen Punkte zum korrekten Stehen. Aber all dies ist nicht das, was das Taiji so besonders macht, in meinen Augen. Es ist nicht das Taiji-Prinzip so wie ich es verstehe, sondern lediglich ein Teil davon - der erste Schritt und eine wichtige Voraussetzung dazu, dieses zu erlernen! Die oben genannten Punkte finden sich in jeder funktionierenden Kampfkunst - wenn wohl auch nicht in dieser Tiefe, und stellen natürlich auch einen wesentlichen Teil des Taijiprinzips dar. Auch die Spiralbewegungen, welche im Taijiquan eine sehr wichtige und tragende Rolle spielen, finden sich in anderen Kampfkünsten. Kein einziger Hebel oder Wurf würde ohne diese funktionieren.
Im Taijiquan bewegen wir nicht einfach unseren Körper mit Spiralbewegungen, wir leiten Energien in Spiralen durch unseren Körper und lassen somit diese Spiralbewegungen entstehen! Taijiquan bedeutet also: Entsprechend der Energien Yin und Yang zu handeln und sich entsprechend dieser Energien zu bewegen, bzw. die äußere Bewegung aufgrund der Energien im inneren entstehen zu lassen.
Wirkt eine Kraft von außen auf mich, so ist dies in der Regel mehr oder weniger Yang aus dem Blick dessen, der diese Kraft auf mich wirken lässt. In dem Moment aber, in dem das Yang des Gegners, bei einem Schlag zum Beispiel, in meinen Körper – etwa durch den abwehrenden Arm, aufgenommen wird und von dort Richtung Zentrum läuft (oder entsprechend daran vorbei geleitet wird), ist diese Kraft für mich also Yin. Das heißt: Die Yang Energie des Gegners ist hier meine Yin Energie und umgekehrt. Man kann also sagen, ich nehme das von außen kommende Yang auf und setze ihm Yin entgegen (das Yang wird automatisch zum Yin, da es ja Richtung Zentrum wirkt – also von außen nach innen). Ich spiegele also meinen Gegner und bilde so eine Einheit mit ihm – ganz so wie ein Schatten! Mache ich eine Bewegung nach innen, also eine aufnehmende Bewegung, so folgt mir mein Schatten entsprechend mit einer Bewegung nach außen und umgekehrt. Das nennt man also Schattenboxen! Nur bin ich der Schatten meines Gegners in den Kampfanwendungen oder dem Tuishou. Er gibt mir ein Yang und ich arbeite mit dieser Kraft im Inneren als Yin. Das Yin zu verstehen und zu kultivieren, ist also der wichtigere und schwierigere Teil unserer Übung. Aber ohne Yang kein Yin – entsprechend sollte auch das Yang verstanden werden. In der 1. Form üben wir überwiegend das eine und in der 2. Form kümmern wir uns verstärkt um das andere. In der ersten Form lege ich den Fokus auf das Kultivieren aufnehmender Energien und ihrer Bewegungs- und Anwendungsprinzipien und in der zweiten Handform des Chen Taijiquan lege ich meinen Fokus auf das Kultivieren abgebender Energien und ihrer Prinzipien.
Aus dem oben beschriebenen erkennt man nun: Energiekreisläufe sind niemals statisch oder festgelegt! Ich weiß ja vorher nicht, wie und wo die Energie genau auf mich wirken wird. Dementsprechend kann ich auch nicht exakt festlegen, auf welchen Bahnen ich sie an meinem Zentrum vorbei oder/und zurück auf den Übungspartner leite. In der Form jedoch muss ich mich für eine sinvolle Bahn entscheiden. Möglichst nahe unserer Seidenübungen und der zu übenden Anwendung innerhalb der entsprechenden Bewegung.
In der Form wirken erst einmal keine Kräfte von außen auf mich (es sei denn, ich erzeuge diese selbst), da ich ja keinen Gegner habe, der mir diese Energien frei Haus liefert. Das ist einerseits sehr angenehm (man bekommt keine Prügel und muss auch keine austeilen) hat aber auch den Nachteil, dass ich mir jetzt die Mühe machen muss, diese Energien selbst zu generieren. Ein weiterer Vorteil ist, dass ich in der Form sehr entspannt das Aufnehmen (mein Yin bzw. das Yang aus Sicht des simulierten Gegners), das Umleiten der Energien in meinen Spiralbewegungen, und schließlich das Zurückgeben (mein Yang) der Energie auf meinen Gegner (oder in der Form das Weiterleiten der Energie Yang bis in die Peripherie meines Körpers, etwa die Finger, Hände, Arme, Beine, Waffe etc.) üben und verfeinern kann. (Um die Verwirrung komplett zu machen, sei noch erwähnt, dass auch Yin Bewegungen nach außen wirken können – selbst an den Endpunkten einer Bewegung. Wir üben das an mehreren Stellen der Form). Auf diesem Weg verstärke ich durch fortwährende Übung die Seidenfäden bis sie eine Stärke erreichen, die es mir ermöglicht in jeder Situation effizient handeln zu können. Im weiteren wächst natürlich das Verständnis der Energien Yin und Yang. In der Kampfkunstpraxis muss ich dann noch lernen, diese Energien entsprechend der Grundtechniken anzuwenden.
In der Form trainiere ich also ab einem bestimmten Trainingsstand das Taiji-Prinzip weil ich einen Gegner bzw. seine Energien und die Wirkung derer auf mich simuliere - ich übe die Form als wäre dort ein Gegner. In den Anwendungen, dem Tuishou und dem freien Kampf muss ich keinen Gegner simulieren. Dort muss ich nicht wie in der Form Energien durch eigene Bewegungen selbst erzeugen, da ja der Gegner nun diesen Part übernimmt. Der Gegner liefert hier die Energie, die mich bewegt. Mein Augenmerk sollte hier der wirkenden Energie und nicht dem Gegner gelten. Es ist also wieder wie in der Form – nur diesmal ohne Gegner, da die Energie ja schon da ist!
Bei Chen Changxing heißt es: „Übe als ob du einen Gegner vor dir hast. Im Angesicht des Feindes aber kämpfe als ob da niemand ist.“
Diese Energie kommt also von außen und wirkt nach innen und von dort zurück!
So schreibt Chen Changxing (1771-1853) in seinen Thesen über die Drei Abschnitte (San Jie) und Vier Wipfel (Si Shao): „Wenn das Qi sich in Bewegung setzt, so beginnt es am Wipfelabschnitt, dann folgt der mittlere Abschnitt, der dann den Wurzelabschnitt antreibt“.
Eine Wurzel ist erfahrungsgemäß im Boden verankert und der Wipfel ist außen bzw. oben wenn man einen Baum vor Augen hat. Betrachtet man den Arm isoliert, so ist die Hand der Wipfel, der Arm die Mitte und der Oberarm bis zur Schulter die Wurzel.
„Kennt man den oberen Abschnitt nicht, so kennt man seine Herkunft nicht, kennt man den mittleren Abschnitt nicht, hat man nur leere im Bauch und wenn man den unteren Abschnitt nicht kennt wird ein Durcheinander geschehen„ heißt es weiter.
Also zu Deutsch: Wenn ich die Hand und die Energie die an ihr zu wirken beginnt nicht verstehe, verstehe ich nicht wo die Energie herkommt, sie zu deuten, und verstehe ich die Mitte dieses Abschnitts nicht kann ich die Energie nicht weiterleiten und die ganze Maschine kommt erst gar nicht in Gang (erreicht die Energie von außen kommend die Mitte des Abschnitts ist der Bauch voll und ich bin bereit zu wirken) und ohne die Wurzel zu kennen verstehe ich nicht die Energie in den restlichen Körper oder von dort zurück zu leiten (die Wurzel verbindet diesen ja mit dem jeweiligen Abschnitt – hier der Arm) und meine Bewegung kommt doch noch durcheinander und ich verliere am Ende nun doch die Kontrolle.
„Und doch, das Schlagen erfolgt aus dem inneren und schießt nach außen, und das Qi wurzelt im Körper und schießt in die Zweigspitzen (Wipfel)“, so Chen Changxing.
Was er hier beschreibt ist die Reaktion, Yang – erst nachdem die Bewegung des Gegners ins Leere gelaufen ist kann ich meinen Schlag ansetzen, der kommt dann von innen nach außen (so zusagen aus dem vollen Bauch), man kennt das ja. Also die Energie kommt von Außen, wandert nach innen und von dort wieder nach außen (das übrigens nicht nur durch Kontakt mit den Händen zum Gegner, sondern auch beim Formlaufen - in diesem Fall wandert die Energie aus dem Boden durch Füße und Beine nach innen zum Zentrum und von dort wieder weiter nach außen zu den jeweiligen Wipfelabschnitten).
Die Kunst ist, die Energie sinnvoll in meinem Körper zu lesen, zu leiten und damit umzuwandeln und sie nicht unterwegs in der Bewegung zu verlieren. Aus Yin wird wieder Yang. Das Resultat: Trifft mich Yang oder Fülle, bin ich automatisch Yin oder auch leer und treffe ich auf Leere bin ich automatisch Fülle (sonst wäre ich ja nicht auf Leere getroffen). Daran erkennt man schon: Unser Taijiquan ist eben nicht nur weich und nachgiebig sondern auch hart und unbahrmherzig (wir üben das bereits und gehen darauf weiter ein, wenn wir uns verstärkt um die Shen Fa - die Prinzipien der Körperbewegung kümmern). Im weiteren Übungsstand ist diese Energie nicht mehr nur die Bewegung, sondern bereits die Bewegungsabsicht des Gegners, die zu einer sinnvollen Reaktion auf meiner Seite führt. „Bewegt sich der Gegner nicht, bewege ich mich nicht – bewegt sich der Gegner, bin ich schon da“, heißt es ab diesem Punkt auch ohne einen vorangegangenen körperlichen Kontakt zu nutzen. Generell nutze ich immer die Bewegung meines Gegners für meine Aktionen und Reaktionen. Andernfalls wäre mein Angriff auch viel zu leicht zu durchschauen.
Somit verfeinert sich auch das Taiji-Prinzip und wächst mit dem eigenen Fortschritt.
Bedeutet Taiji-Prinzip für Anfänger überhaupt stehen zu können, sich gelöst, gesunken und „äußerlich“ verbunden bewegen zu können. So bedeutet es für fortgeschrittene Übende nach und nach, erst Öffnen und Schließen/Verbinden tatsächlich zu verstehen (geht die Energie nach oben, so öffne ich; sinkt sie verbinde ich) und schließlich auch tatsächlich Yin und Yang im Körper zu unterscheiden und sich von diesen Kräften bewegen zu lassen. Sprich mit ihnen zu arbeiten (nach und nach auch in den Anwendungen)! Oder etwas früher, diese Kräfte durch eine selbst induzierte Bewegung zu erzeugen und zu leiten – also die Energie folgt der Bewegung. Im weit fortgeschrittenen Können erreicht das Taiji-Prinzip wohl auch eine mentale Ebene, die einen Kontakt des Gegners zum Übertragen der Energien überflüssig macht. Dies erfordert eine mentale Verbindung zu meinem Übungspartner und setzt ein im Vergleich zu diesem sehr großen Levelunterschied hinsichtlich des Könnens voraus (bei Gleichstarken funktioniert das nicht im Ansatz und der Versuch allein wäre im Ernstfall, sagen wir mal sehr gewagt).
Ich denke aber, das die hier genannten Aspekte (es gibt noch mehr davon*) des Taijiquan-Prinzips ein ausreichendes und lohnendes Ziel der täglichen Übungen darstellen. Vom Anfänger bis zum Fortgeschrittenen findet sich hier ein Übungsziel, das wir in unserem Unterricht nach und nach bewerkstelligen. Das alles ist aber schon, wie es so schön heißt: Ein Haufen Holz, den es zu bewerkstelligen gilt, will man sein Taijiquan auf ein nutzbares Niveau bringen. Dieses Ziel sollte man aber dennoch nicht aus den Augen verlieren. Und dies erklärt, so hoffe ich, meinen Schülern auch meine Methode das Taijiquan im Unterricht zu lehren und zu üben. Nicht das Stehen können und nicht das Meistern der wei san he usw. ist das Ziel sondern lediglich die Voraussetzung für alles weitere. Wir arbeiten also an vielen Fronten! Doch lichtet sich der Nebel irgendwann und das eigentliche Taijiquan zeigt sich in seiner tieferen Ebene. Einen Energiefluss im Körper zu spüren ist da noch lange nicht das Ziel sondern lediglich Grundlage unserer Arbeit und als solches noch lange kein Grund sich etwas einzubilden oder zu denken, über besondere Fähigkeiten zu verfügen. Heißt es doch lediglich ab diesem Punkt, dass ich mich einigermaßen geschlossen und verbunden bewegen kann. Das eigentliche Taijiquan beginnt erst ab hier!
Daher bitte ich euch, meine Schüler: Kommt bitte niemals auf die peinliche Idee, Schüler anderer Schulen oder noch schlimmer deren Lehrer, unaufgefordert und am besten noch öffentlich hinsichtlich ihres Taijiquan oder ihres Energiekreislaufes zu belehren – das ist nicht nur peinlich sondern auch ein Zeichen dafür, tatsächlich nicht mehr erreicht zu haben. Ein solches Verhalten führt dazu, in der Kampfkunstszene belächelt zu werden (insofern man nicht mindestens mehrere Vollkontakttitel in Folge vorzuweisen hat) und hätte wohl einen Bruch mit mir zur Folge!
Den Energiefluss deutlich zu spüren ist lediglich ein kleiner (aber nicht unwesentlicher Schritt) in die richtige Richtung. Doch ein Energiefluss, der sich nicht nutzen lässt, ist bloß eine andere, wenn auch sehr fortgeschrittene Illusion! Aber ganz so wie ein guter Sekt, muss auch das Taijiquan und der Charakter derer die es betreiben reifen. Bei Lehrern wie Schülern. Das heißt, es braucht Zeit, Geduld, Sensibilität und eine förderliche Umgebung! Doch man muss die Flaschen im Keller jeden Tag drehen und säubern sonst verdirbt der Sekt noch auf dem Weg seiner Reife. Ganz so ist es auch beim Kultivieren des Taijiquan und der daoistisch geprägten Ziele unserer geistigen Entwicklung sofern wir diese anstreben. Aber was den Charakter betrifft, mache ich mir bei euch eher weniger Sorgen.
In diesem Sinne, bis zum nächsten Unterricht.
Sören Aissen
*Um Unklarheiten zu vermeiden, möchte ich das Taijiprinzip, so wie ich es unterrichte, kurz in einigen Schlagworten benennen, um den Übungsweg des Taijiquan für meine Schüler klar zu machen: 1. Wai san he 2. nei san he 3. Radkräfte, Spiralkräfte und Fajin und 4. Die 13 Grundtechniken verstehen und anwenden. Diese 4 Säulen ergeben für mich das Taijiprinzip und werden in meinem Unterricht der Reihe nach abgearbeitet. Darin verbirgt sich eine große und umfassende Lehre. Wer diese vier versteht und halbwegs zufriedenstellend anwendbar umsetzt, kann in meinen Augen mit Recht von sich behaupten, Taijiquan zu verstehen - obwohl das auch noch nicht ganz alles ist.